Theaterkritik - " Argentinisches Tageblatt", Buenos Aires, 27.9.1997

Lust und Lohn des Mutes

Atemberaubende Aufführung von Goethes "Faust"
durch die Gruppe "theater th2 teatro"
der Deutschen Schule Montevideo
in der Goethe-Schule Buenos Aires

Als am vergangenen Samstag Abend sich für das gespannte Publikum die Türen des Theaterraumes öffnen, treten die Zuschauer in eine wohlüberlegte Szenerie: In der Mitte des Raumes ist ein schwarzes fünfeckiges Podium als Bühne aufgebaut. (Wer dächte dabei nicht an das Pentagramm auf der Schwelle zu Fausts Studierstube?) Sie ist durch ein Spotlight punktgenau senkrecht von oben illuminiert und wird das räumliche Zentrum der nächsten zweieinhalb Stunden bilden. In dem Raum, der sich in einen dunkleren Hintergrund dehnt, sind drei Gruppen von einer, zwei und drei Gestalten verteilt, die puppenhaft regungslos und stumm den Auftritt des Publikums begleiten. Und dieses Publikum lässt sich einfangen von der Suggestion der Szene: Es verteilt sich in die Sitzreihen, die parallel zu den Kanten des Bühnenfünfecks aufgestellt sind, ordnet sich in den Kunstraum ein und die Plaudereien klingen aus.

Und dann hebt ein Spiel an, das die Dimensionen nicht nur herkömmlichen Schultheaters umstandslos sprengt und weitere Räume eröffnet, Phantasien in Bewegung setzt und am Ende den begeisterten Applaus eines vom Gesehenen, Erlebten fast sprachlosen Publikums erntet.

Unter dem Titel "Goethe:Projekt:Faust" präsentiert die Gruppe eine Inszenierung beider Teile von Goethes Stück in einer Weise, der man in einer Zeitungsbesprechung kaum gerecht werden kann. Vom sehr abstrakten und variablen Bühnenbild über abwechslungsreiche Choreographie, die zugleich raffinierten und einfachen Kostüme (hautfarbene Bodies, die aus den Akteuren zunächst Puppen machen, welche je durch die besondere Kostümierung als Figuren des Spiels gekleidet werden) und den vielfältigen und kreativen Einsatz von Musik (von Bollmann, Garbarek, Giger, Janácek, Jarre, Liszt, Parker, Piazzola, Schubert, Schönberg, Richard Strauss, Taylor, Wehner) schafft sie Theaterkunst, die die Zuschauer in allen ihren Sinnen anspricht, erfasst und in den Bann zieht.

Um dieses Goethe-Opus überhaupt an einem Theaterabend spielbar zu machen, wird eine radikal gekürzte (und doch nicht vereinfachte) Version aufgeführt, die die Handlung (von der Tragödie erstem Teil) im wesentlichen erhält, die des zweiten Teils – ein fast unmögliches Beginnen – in symbolischen Szenen aneinanderreiht, die das Publikum aufs äußerste fordern und ästhetisch nahezu überwältigen.

Das Fünfeck der Bühnenform erweist sich als Schlüsselelement der ganzen Inszenierung. Sie umfasst sie nicht nur äußerlich als Aufführungsraum, sondern prägt sie auch von innen heraus. Die Gliederung des Ganzen fügt sich aus Faust I und Handlungselementen aus vier Akten von Faust II zur Fünfzahl. Und fünf Hauptfiguren sind es, die die Stützen der lose aufgespannten Szenenfolge bilden: Faust, der Erkenntnissucher und die Konventionen sprengende Akteur des Lebensspiels, und sein Widerpart Mephistopheles, der Zyniker, Spötter oder auch nur Spieler; Margarete, das einfache, verführte Bürgermädchen, und Helena, das verführerische Urbild aller Schönheit; und Homunculus, der aus der Ursuppe im Reagenzglas entsteht und über stimmliche Präsenz nicht hinausgelangt. Um diese Figuren herum entfaltet sich die Tragödie als lockere Reihe szenischer Bilder ganz im Sinne des zitierten Theaterdirektors aus dem "Vorspiel auf dem Theater":

So schreitet in dem engen Bretterhaus
Den ganzen Kreis der Schöpfung aus.
Und wandelt mit bedächt´ger Schnelle
Vom Himmel durch die Welt zur Hölle.

Der Faust dieser Inszenierung durchläuft unter der Anleitung und in der Begleitung, aber auch in der Auseinandersetzung mit seinem Partner und Antipoden Mephisto in der Tat alle Höhen und Tiefen eines Menschenlebens, zwischen der Schuld an der Zerstörung Gretchens bis zur gewagt ausgespielten Vereinigung mit Helena, von der Orgie der Ersten Walpurgisnacht bis hin zum konstruktiven Wirken des alternden Faust im Dienst der Bevölkerung und der Menschheit.

Die konzeptionelle Kühnheit der Aufführung setzt bei Edward König, dem Regisseur, überlegenes Können, reiche Phantasie und sicheres Stilgefühl voraus, bei den Spielern aber die Fähigkeit zu wahrhaft schauspielerischer Leistung, so dass Darstellung und ästhetisches Konzept in einem Gesamtkunstwerk aufgehen. Und das ist ohne Abstriche gelungen.

Zuvorderst ist Patrick Strickler zu erwähnen, der den Mephisto in Stimme und Körperausdruck nuancenreich spielt, den kalten Zyniker, den diabolischen Verführer, aber auch (zu Beginn des zweiten Teils) die Verzweiflung über Zurücksetzung.

Ein waschechter Uruguayer, Pablo Aiscar, bringt mit seiner Faustfigur eine Gestalt auf die Bühne, die sicher die unterschiedlichsten Töne und Züge dieses gespaltenen Charakters trifft. Eine ganz besondere Leistung gelingt der Mädchenhaften Virginia Pita: ihr nimmt man nicht nur in innigen Momenten das Spiel ab; die Kerkerszene, in der sie von Gretchens Liebe zu Faust über Verzweiflung an sich selbst in die Umnachtung stürzt, bildet in ihrer Intensität einen Höhepunkt des Abends. Álvaro Dini ist mehr als nur Erzähler, er ist Kommentator, Wegweiser und Arrangeur des Bühnengeschehens, der im theatralischen wie im praktischen Sinn wesentlich zur Vermittlung des komplexen Stückes ans Publikum beiträgt.

Auch die kleineren Rollen wie Wagner (Rainer Neidhardt), Frau Marthe (Florencia Katz), Valentin (Javier Peluffo), Paris (Gonzalo Penadés), Helena (Ximena Rodríguez), die Hexe der Walpurgisnächte (Pilar Moreira) sind treffsicher besetzt. Wozu zu ergänzen ist, dass bei insgesamt dreißig Einzelfiguren diese SpielerInnen auch andere Rollen mit erstaunlicher Flexibilität ausführen.

Eine eigene Erwähnung verdienen die Gruppe der Meer- und der Luftgeister, der Hexen und Teufel, der Phorkyaden, Nereiden und Tritonen, Lemuren und Engel, die in wechselnder Besetzung (neben bereits genannten) von Rosana Rolleri, Patricia Puglia, Ana Laura Busso, Carolina Dearce, Fabian von Thüngen, Fabián Pita verkörpert werden. Denn sie zeichnen sich vor allem durch genaue Ausführung der verschiedensten Choreographien aus. Bühnen-, Ton- und Lichttechnik (F. von Thüngen), Maske (Carmela Mesa) und Kostüme (Ana Ruétalo) sind aufs genaueste abgestimmt und ergänzen das Spiel zu einer bruchlosen Aufführung.

Diese Faust-Inszenierung hält über ihre gesamte Dauer ein hohes künstlerisches Niveau, und doch gibt es Momente in ihr von höchster Plastizität und Verdichtung, die jedem Zuschauer unvergesslich bleiben müssen. Einer von ihnen ist Fausts und Gretchens erste Liebesnacht, dargestellt in denkbar größter Einfachheit und zugleich unübertroffener ästhetischer Präzision. Beide Liebende vereinigen sich in langsamem, streichelndem Sichverschränken ihrer Hände. Und dieses gestische Verschmelzen vollzieht sich in einem strahlenden Lichtschein, der diese Hände von oben trifft und so hervorhebt, dass schon die auf Armeslänge entfernten Gesichter der Liebenden nur noch indirekt erhellt und schwach zu sehen sind, während die Welt im Dunkel verschwindet. Ist ein Moment unbedingter Liebe theatralisch je schöner erfasst worden?

Von nicht geringerer Eindringlichkeit, wenn auch völlig verschiedenem Charakter ist das Schlusstableau. Faust stirbt, während sein Bauprogramm verwirklicht wird: Vor den Augen der Zuschauer entsteht ein turmförmiges Stahlgerüst, ein Luginsland, Symbol für Fausts aufbauendes Wirken und zugleich Weise in eine dritte Dimension, die Richtung nach oben, in die Fausts Seele oder Entelechie aufsteigen mag, während sein Leichnam am Grund liegen bleibt. Engel, die mit silbernen Flügeln hereinschweben, erhöhen und verschönen das irdische Bauwerk in himmlischer Weise. Und zunächst leise als Hintergrund, mit der Vollendung des Baues anschwellend singt der Chorus Mysticus in Liszts Vertonung von Fausts Erhöhung:

Wer immer strebend sich bemüht,
Den können wir erlösen.

Und er mündet in das triumphale Ende der Faustsinfonie. Wenn sie verklingt, sind auch die beiden letztverbliebenen Figuren im Spiel, Mephistopheles und der Erzähler, die im Hintergrund noch schauend stehen, zurückverwandelt in die puppenhafte Pose des Anfangs und sagen ohne Worte: Das Spiel ist zu Ende. Ein großartiges Spiel, Theater, wie es selten zu sehen ist.

Dr. Bernd Müller


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© 30.11.1997 theater2teatro