Theaterkritik - " El Cóndor ", Santiago de Chile, 5.4.1996

Zwei verschiedene Sprachen

Theatergruppe der DS Montevideo zu Gast in Santiago mit Frühlings Erwachen

Franz Wedekind hat " Frühlings Erwachen ” hat schon 1891 geschrieben , doch erst 1906 kam es zur Aufführung: Kein geringerer als Max Reinhard an seinen Berliner Kammerspielen wagte es , die ,, Kindertragödie " , die man 15 Jahre lang für unaufführbar gehalten hatte , auf die Bühne zu bringen.

Wedekinds Attacke auf die verlogene bürgerliche Sexualmoral wirkte in der wilhelminischen Ära gar zu schockierend und so wurde das Stück nach der Uraufführung für weitere sechs Jahre verboten , obwohl die Inszenierung ein durchschlagender Erfolg war und Wedekinds Ruhm als Theaterautor begründete.

Das Stück erzählt in lose miteinander verbundeten Szenen mal lyrisch-stimmungsvoll , mal satirisch-expressiv die Tragödie einer in ihrer Bürgerlichkeit und Unwissenheit gefährdeten Jugend . Die vierzehjährige Wendla wird - ahnungslos , da sie nicht aufgeklärt ist - von ihrem Freund Melchior schwanger und stirbt an einer Abtreibung , die ihre Mutter aus Angst vor der Schande vornehmen lässt . Der sensible Moritz erschiesst sich , weil er nicht in die nächste Klasse versetzt wird und die Schande seinen Eltern nicht zumuten kann. Der grüblerische Melchior wird in eine Korrektionsanstalt gesteckt, weil er seinen Gedanken und Zweifeln über die Natur der Menschen Ausdruck verleiht. Sie alle sind Opfer einer falschen Erziehung, die die Kinder mit ihren Problemen allein läßt und ihre Nöte nicht beim Namen nennt.

Hat dieses vor über 100 Jahren entstandene Stück uns heute, im Zeitalter der frühen sexuellen Aufklärung, der Koedukation und des liberalen Umgangs zwischen Mädchen und Jungen, Erwachsenen und Kindern, noch etwas zu sagen? Edward König, Lehrer an der Deutschen Schule Montevideo und als Leiter der Theatergruppe für die Regie der Aufführung verantwortlich, bejaht vehement. Ohne Zweifel seien die Sitten freier geworden, sei die Aufklärung über die geschlechtlichen Vorgänge allen leicht zugänglich, man könne der Bilderflut an Kiosken, in Kinos und im Fernsehen ja nicht entgehen - aber wird deswegen in den Familien mehr miteinander gesprochen?

Wo finden die Kinder Rat über absolut normale Phänomene wie Masturbation oder homosexuelle Neigungen? Die diesbezüglichen Szenen wagte nicht einmal Wedekind in seiner Uraufführung zu zeigen. In dieser Aufführung wurden sie mit einbezogen. Auch heute noch, so König, gebe es Kinder und Jugendliche, die sich wegen unbewältigter Konflikte mit Schule, Elternhaus oder Freundeskreis umbringen.

Daß das Stück nichts von seiner Aktualität eingebüßt hat, bewiesen die jungen Akteure durch ihr überzeugendes Spiel. Schade, daß sie vor halbleerem Saal und unter akustisch unzumutbaren Bedingungen agieren mußten. Um so höher ist es ihnen anzurechnen, daß sie der Absicht des Stückes - die Nöte der Jugendlichen, das Unverständnis der Erwachsenenwelt und die sich daraus ergebenden Konflikte zu zeigen -glaubhaft Ausdruck zu verleihen vermochten.

Die fehlende Verständigung zwischen Erwachsenen und Kindern wurde durch einen originellen Regieeinfall unterstrichen. Das Stück wurde zweisprachig gespielt. Die jungen Leute sprachen unter sich Deutsch und mit den Erwachsenen Spanisch, wie diese auch unter sich. So wurde deutlich, wie Jung und Alt im wahrsten Sinne des Wortes zwei verschiedene Sprachen sprechen. Als z.B. Wendla im Krankenbett ihrer Mutter und ihrer Tante ihren Traum erzählt (auf deutsch), sprechen die Erwachsenen dazu auf spanisch über etwas ganz anderes, und Wendla bleibt mit ihrem Traum unverstanden und allein.

Die Wirkung des Stückes wurde unterstützt durch das sparsame, aber sehr effektvolle Bühnenbild aus verschiedenen Holzrahmen und schwarzen Tüchern und das geschickt eingesetzte Licht. Dieses ermöglichte Szenenwechsel ohne große Umbauten und Tricks wie das gruselige Erscheinen von Moritz, der seinen Kopf unter dem Arm trägt. Die jungen Akteure - ihre Muttersprache ist bei fast allen Spanisch - spielten auf deutsch und spanisch achtbar bis sehr gut, hervorzuheben sind besonders Mariano Fernandez als Melchior, Patrick Strickler als Moritz, Jöelle Strickler als Ilse und Patricia Puglia als Wendla.

Quelle: " El Cóndor ", Santiago vom 5.4.1996


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© 26.5.1996 theater2teatro