JOHANN WOLFGANG GOETHE
Kleine Biografie


 

Goethe
ein unangepasstes Leben

Von Jörg Platen

 

José Ortega y Gasset hat es auf den Punkt gebracht: "Es ist fast lächerlich, wie Goethe mißverstanden wurde. Dieser Mann hat sein Leben damit verbracht, sich selbst zu suchen oder zu meiden.."

Tatsächlich hat es Johann Wolfgang von Goethe nicht verdient, daß man ihn zum "Dichterfürsten" erstarren läßt oder Heerscharen verstaubter Germanisten an ihm Denkmalpflege betreiben. Noch der einundachtzigjährige Goethe verstand sich ganz anders: "Man muß sich immerfort verändern, erneuern, verjüngen, um nicht zu verstocken."

Alexander von Humboldt bestätigt als Zeitgenosse den Erfolg dieses Postulats: "Er gleicht einem Brunnen mit vielen Röhren, wo man überall nur Gefäße unterzuhalten braucht und wo es uns immer erquicklich und unerschöpflich entgegenströmt."

Goethe war nie bequem und stets für faustdicke Überraschungen gut! Interessant ist, wie die Gesellschaft darauf reagierte. Ein Zeitgenosse -Heinse- beschreibt das so: "Man braucht nur eine Stunde bei ihm zu sein, um es nicht in höchstem Maße lächerlich zu finden, von ihm zu begehren, daß er anders denken und handeln soll, als er wirklich denkt und handelt."

Die Souveränität seines Denkens und Tuns faszinierte derart, daß man ihn akzeptierte. Mit dem Erfolg wurde aus Akzeptanz Verehrung. Dabei machte er es seiner Umwelt nicht leicht, zum Beispiel der Student Goethe müßte zunächst eher der Schrecken seiner Eltern gewesen sein. Immerhin steht er nach 3 Jahren nach einem abgebrochenen Studium in Leipzig vor seines Vaters Tür. Meistens hatte er die langweiligen Vorlesungen einfach geschwänzt. Ein späterer Versuch, durch eine Promotion das ungeliebte Jurastudium doch noch abzuschließen, schlägt fehl. Den Herren der juristischen Fakultät ist Goethes kühne These, daß die christliche Lehre nicht von Jesus stamme, sondern von anderen unter seinem Namen verkündigt worden sei, doch ein zu heißes Eisen. Aber dann bewilligen sie noch eine Art Nachprüfung zur Erlangung der Lizenz als Rechtsanwalt. Der besorgte Vater läßt seine Beziehungen spielen, bringt den jungen Mann schließlich bei Freunden als Rechtsanwalt unter. Seine Erwartungen, der möge sich nun eine angesehene Praxis aufbauen, wird gänzlich enttäuscht. Der junge Rechtsanwalt führt in 4 Jahren zwar nur 28 unbedeutende Prozesse, wird aber vom Gerichtshof wegen seiner "unanständigen Schreibart" in seinen juristischen Einlassungen gerügt. Der Autor des "Götz von Berlichingen" und des "Werther" hat jedoch längst andere Dinge im Sinn als eine bürgerliche Existenz. Erst vierundzwanzig Jahre alt, war er inzwischen einer der bekanntesten Autoren Deutschlands, der im "Werther", die Stimmung seiner nichtangepaßten Altersgenossen genau getroffen hatte. Der "Werther" wurde ein Bestseller und löste eine Art Massenhysterie mit Selbst….serie aus. Man erschoß sich gar am offenen Grab, den "Werther" in der Hand.

In Weimar wird der junge Mann in den Jahren nach 1775 zunächst zum Bürgerschreck. Im städtischen Klatsch werden nächtliche Streifzüge zu handfesten Orgien. Die "chronique scandaleuse" wird immer länger. Dann die große Überraschung: In atemberaubenden Tempo macht der "Seiteneinsteiger" eine steile Karriere im Staatsdienst. Er wird Finanz-, Wirtschafts- und Militärminister, beschäftigt sich mit Straßen und Bergbau und tritt als außenpolitischer Berater auf. Ämter, Würden und Bürden. Aber alles Tun und Streben ist für diesen Mann nur Station, Episode. Es muß in der Weimarer Gesellschaft wie eine Bombe eingeschlagen sein, als dieser äußerst erfolgreiche Staatsdiener sich selbst beurlaubt: "Den 3. September stahl ich mich …. weg, man hätte mich sonst nicht gelassen. Man merkte wohl, daß ich fort wollte, ich ließ mich aber nicht hindern, denn es war Zeit … "

Als Goethe sich nach 2 Jahren von seiner "Italienischen Reise" zurückbequemt, nimmt die Weimarer Gesellschaft den unkonventionellen Mann jedoch wieder auf, um sofort erneut geschockt zu werden. Als Zweiundvierzigjähriger macht er eine dreiundzwanzigjährige Arbeiterin aus einer Blumenfabrik ohne jede Bildung (außer der des Herzens!) zu seiner Geliebten und Hausgenossin. Mit den Worten "Ich bin verheiratet, nur nicht durch Zeremonie", charakterisiert er selbst diese unschickliche glückliche Verbindung, zu der er Zeit seines Leben steht. Frau von Stein und Schiller sind -wie alle in Weimar- sprachlos, aber sie akzeptieren auch diese unabänderliche Attitude des Außergewöhnlichen. Seelenfreundschaft und Dichterbund bleiben also erhalten.

Als 1822 der Vierundsiebzigjährige um die Hand der neunzehnjährigen Ulrike von Levetznow anhält, liegt die einzige Überraschung nur noch darin, daß sich der Greis selbst zum endgültigen Verzicht auf solche Liebeshändel entschließt. Die Gesellschaft hat sich ja auch schon daran gewöhnt, daß unerhörte Vorgänge im Leben des Dichters anschließend einen poetischen Niederschlag finden.

Hatte die Begegnung mit Friederike Brion 1771 zu den "Sesenheimer Liedern" geführt, so entstand 1823 halt die "Marienbader Elegie". Man wußte ja, es war dem Dichter zum Bedürfnis geworden, sich durch poetische Gestaltung von dem, was ihn innerlich beschäftigte, zu befreien, wie er in "Dichtung und Wahrheit" andeutete: "Und so begann diejenige Richtung, von der ich mein ganzes Leben über nicht abweichen konnte, nämlich dasjenige, was mich erfreute und quälte, in ein Gedicht zu verwandeln und dabei mit mir selber abzuschließen…"

Friedrich Gundolf hat diese bewerkenswerte Fähigkeit so formuliert: "Goethes Bildnerkraft hat alle seine zufälligen Begegnungen in Schicksal verwandelt: seine Vitalität in Produktivität."

Nein, ein verstaubter "Dichterfürst" ist er beileibe nicht, dieser Goethe! Unermüdliches Fortschreiten bestimmten Mensch und Werk.

Die Gesellschaft blickte mit Faszination auf die Intensität des Strebens bei literarischen Gestalten und Autor. Einordnung und Anpassung an ihre Normen und Konventionen wurden erst gar nicht erwartet. Man empfand angesichts der Größe des Menschen und Dichters die eigene Mittelmäßigkkeit zu deutlich und ließ ihn nicht nur gewähren, sondern blickte zu ihm auf.. Ein solches Glück bleibt dem normal Sterblichen allzu oft verwehrt.


© 23.11.1997 theater2teatro